Beifahrer können auch Nein sagen: Roadcross appelliert an die Vernunft junger Erwachsener
Ambra ist 21 Jahre alt. Sie lächelt Anfang dieser Woche den jungen Frauen und Männern in der Aula des Berufs- und Weiterbildungszentrums Rorschach-Rheintal von der Videowand entgegen. Sie spricht mit ruhiger Stimme und unaufgeregt von jenen drei Sekunden, die ihr Leben vor zwei Jahren so drastisch verändert haben. Egal, ob sie dabei läuft, sitzt oder auf dem Ergometer im Fitnessstudio in die Pedale tritt, stets hält sie sich mit ihrem linken Arm ihren rechten Arm fest. Seit jenem verhängnisvollen Tag hat sie darin kein Gefühl mehr, die Nerven sind durchtrennt, die Hand ist gefühllos.
Es ist für einen Moment ruhig im Raum. Mitgefühl und Betroffenheit sind beinahe greifbar. «Was geht euch jetzt durch den Kopf», fragt Moderator Serkan Yalçinkaya. «Was war das nur für einen Idiot», ist gleich mehrmals zu hören. Gemeint ist damit der junge Autolenker, der zwischen Winterthur und Schaffhausen durch eine Raststätte gerast ist, um einen auf der Schnellstrasse langsam fahrenden Lastwagen zu überholen. Bei der Wiedereinfahrt auf die Autostrasse verliert er die Kontrolle über seinen Wagen, kommt ins Schleudern und prallt in genau diesen Lastwagen. Im Film ist das völlig zerstörte Heck zu sehen, in dem Ambra damals als Mitfahrerin sass.
Der Unfall lässt Ambra nicht mehr los
Die 21-Jährige wird, ebenso wie ihr damaliger Freund, mit dem Helikopter ins Spital geflogen – er überlebt nicht, die Kopfverletzungen sind zu schwer. Sie hat nicht nur ihn verloren, erzählt Ambra gefasst. Ihre Ausbildung als Pflegefachfrau musste sie abbrechen, dafür braucht man zwei gesunde Arme. Am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogen worden ist aber ihre Psyche. Der Unfall lässt sie nicht mehr los, sie ist zwar in psychiatrischer Behandlung, doch es gibt Dinge, da können auch Ärzte nicht wirklich helfen. Sie sagt:
«Ich nehme meine Fragen, die mich täglich quälen, mit ins Grab.»
Es sind genau diese erschütternden Konsequenzen, mit denen Serkan Yalçinkaya die jungen Menschen aufrütteln will. Unter der Leitung des Moderators finden Jugendliche und junge Erwachsene heraus, wie sich durch Einstellungs- und Verhaltensänderung Unfälle vermeiden lassen. Ob als Fahrer oder als Beifahrer. Nicht nur er, auch Ambra richtet einen Appell an die jungen Menschen im BZR: «Lasst euch nicht zu etwas überreden, nur um vermeintlich cool zu sein. Wenn jemand rast und die Verkehrsregeln missachtet, steigt aus und nehmt den Zug.»
Den Kotz-Trick anwenden
«Und wenn der Lenker nicht stehen bleibt, was dann?», will Jussuf wissen. «Niemand mag es, wenn das Auto nach Erbrochenem stinkt. Dann sagt ihr einfach, dass ihr gleich kotzen müsst, das hilft eigentlich immer.»
Korrektes Verhalten fördern, für Risiken sensibilisieren, nach einem Unfall helfen. Die Stiftung Roadcross Schweiz ist das Kompetenzzentrum für Verkehrssicherheit. Zwar lernen Neulenker im Rahmen der Fahrausbildung alles, um ein Fahrzeug sicher zu manövrieren. Das heisst aber nicht automatisch, dass sie sich verantwortungsbewusst ans Steuer setzen. Verantwortungsbewusstsein setzt eine Reflexion über eigene Werte, das eigene Verhalten und die eigene Rolle im Verkehr voraus. Schleuder- und Selbstunfälle, verursacht durch zu hohe Geschwindigkeit, Ablenkung oder Alkohol- und Drogenkonsum passieren dann, wenn diese Selbstreflexion nicht stattgefunden hat.
Junge Menschen auf Augenhöhe abholen
Serkan Yalçinkaya ist ausgebildeter Psychologe. Ziel des 33-Jährigen ist es, dass die jungen Frauen und Männer im BZR Rorschach sich selbst kritisch hinterfragen, ihre Verhaltensweisen reflektieren und die richtigen Entscheidungen treffen. «Es ist wichtig, dass wir sie dabei auf Augenhöhe abholen. Wir konfrontieren sie mit Geschichten von Unfallopfern und Delinquenten, die möglichst nahe an ihrem eigenen Leben sind. Wie etwa jene von Ambra, deren Unglück ja im Ausgang passierte», so Yalçinkaya. «Ich glaube, wenn die persönliche Betroffenheit gekickt wird, ist das nachhaltiger als irgendwelche Schockpräventionen. Wir arbeiten daher mit wenigen Unfallbildern, versuchen aber, einen Bezug dazu zu schaffen.»
Hat er Hoffnung, dass das kritische Bewusstsein für Ablenkung, Geschwindigkeit, Alkohol und Drogen bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern langfristig anhält? «Es kommt vor, dass ich Jugendliche bei anderer Gelegenheit nochmals treffe. Dabei bekomme ich oft die Rückmeldung, dass die Empfehlungen und Anregungen aus den Veranstaltungen des Unfallpräventionsprojektes für sie in heiklen Momenten, wenn es etwa um das Mitfahren geht, ein wertvoller Anker ist.»
Ein verschuldeter Unfall kann richtig teuer werden
Ein Raunen geht durch die Aula, als Serkan Yalçinkaya bei einem Beispiel aufzeigt, welche juristischen und finanziellen Konsequenzen Unfälle haben können, wenn etwa Cannabis im Spiel ist. So muss der 20-jährige Sandro 15 Jahre lang jeden Monat 1500 Franken an die Versicherung zurückzahlen. Und bei diesem Beispiel betrage die Regressforderung «nur» 20 Prozent der Unfallkosten von 1,4 Millionen Franken. Meistens verlangten Versicherungen bei Drogen, Alkohol oder Grobfahrlässigkeit sogar 80 Prozent der Kosten zurück.
«Was ist mit Ambra, kann sie wieder in ein Auto steigen und mitfahren?», will einer der jungen Männer abschliessend wissen. «Nein», sagt Serkan Yalçinkaya, «ausgeschlossen, das kann sie bis heute nicht.»
Rudolf Hirtl, St.Galler Tagblatt