Attraktive Lehre ist wenig gefragt
Das «plus» bedeutet eine einmalige Lebenserfahrung. Bei einer Gastfamilie wohnen, internationale Berufserfahrung sammeln, Sprachkenntnisse erweitern. Lernende der «kv plus»-Lehre unterbrechen nach dem 2. Lehrjahr ihre Ausbildung und schieben ein Zwischenjahr ein. Je ein halbes Jahr leben sie in einer englischen und französischen Gastfamilie und arbeiten in zwei verschiedenen Betrieben als kaufmännische Angestellte.
«Wir finden die Idee super und unterstützen dieses Angebot, so gut wir können», sagt Philipp Müller, Leiter kaufmännische Berufe am BZR, Berufs- und Weiterbildungszentrum Rorschach-Rheintal. «Nebst den sprachlichen Kompetenzen der Lernenden dürften auch ihre Selbst- und Sozialkompetenzen profitieren.»
KMU-Lehrbetriebe sind skeptisch
Am BZR gab es letztes Jahr zwei Lernende, die sich gern für die «kv plus»-Lehre beworben hätten. «Leider ist es bei unseren Interessentinnen gar nie zu einer Bewerbung gekommen», sagt Philipp Müller. Die Lehrbetriebe haben keine Zusage erteilt. Obwohl er den Entscheid bedauert, zeigt er auch Verständnis. Für die Betriebe sei es nicht ganz einfach, ein Auslandjahr zu ermöglichen. «Je nach Planung und Rhythmus der Betriebe würden mit einem Wegfall der Lernenden gewisse Arbeiten nicht mehr abgedeckt.»
Dies bestätigt Isabel Pino, Co-Geschäftsleitung Hubatka-Textil Altstätten. Die Idee der «kv plus»-Lehre ist neu für sie und gefällt ihr grundsätzlich. Doch wenn Lernende ein Jahr fehlen würden, sei das schwierig zu kompensieren. Den Zeitpunkt hält sie nicht für ideal. Besonders im 3. Lehrjahr können die jungen Leute verantwortungsvolle Aufgaben im operativen Geschäft übernehmen. «Als KMU-Betrieb sind wir auf die Lernenden als Arbeitskräfte angewiesen», sagt Isabel Pino. Sie würde es begrüssen, wenn das Auslandjahr nach der Lehre angehängt würde.
Andererseits könnten die Betriebe auch profitieren, betont Philipp Müller. Im hart umkämpften Markt um gute Lehrlinge wäre die Unterstützung einer «kv plus»-Lehre eine Möglichkeit, um sich von der Konkurrenz abzuheben. «Ausserdem bin ich überzeugt, dass die Lernenden motivierter, selbstbewusster und reifer zurückkehren», sagt er. «Dies kommt den Betrieben während der Lehre und auch bei einer möglichen Weiterbeschäftigung danach zugute.»
Die Kosten sind hoch, aber gedeckt
Dennoch weist er selber auf einen weiteren, heiklen Punkt im Auslandjahr hin. «So toll die ‹kv plus›-Lehre ist, muss sie sich die Kritik gefallen lassen, dass für relativ viel Geld relativ wenige Lernende profitieren», sagt Philipp Müller. «Nicht, dass ich den auserwählten Lernenden das nicht gönne – ganz im Gegenteil, wir unterstützen das ja.» Mit diesem und anderen Projekten (siehe Kasten), versucht das BZR, möglichst vielen Lernenden einen Zusatznutzen im Spracherwerb zu ermöglichen. Die «kv plus»-Lehre ist eine Erfindung der KV Luzern Berufsfachschule, die unter anderem auch die Gastfamilien und die Praktikumsplätze organisiert. Unterstützt und gefördert wird das Auslandjahr vom Bund. Die Stiftung movetia übernimmt im Rahmen ihrer Austausch- und Mobilitätsprojekte die Kosten von 17000 Franken für Reise, Kost und Logis, Praktika und Sprachunterricht. Für ihr Taschengeld müssen die Lernenden selbst aufkommen, einen Lohn erhalten sie nicht.
Im Kanton St. Gallen haben einige kaufmännische Berufsschulen die Idee aufgenommen und bewerben das Angebot aktiv bei ihren Lernenden. «Am BZR haben wir einen Flyer, den wir allen Lernenden im 1. Lehrjahr verteilen, wir informieren die Eltern an Infoanlässen und haben die Berufsbildenden verschiedentlich auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht», sagt Philipp Müller.
Eine fremde Arbeitskultur erlebt
Im letzten Herbst führten die Schulen erstmals unter der Federführung des KBZ in St. Gallen einen gemeinsamen Infoanlass durch. Mit dabei waren ehemalige Lernende, die bereits eine «kv plus»-Lehre absolvierten. Rebecca Pirkes kam «total bereichert» aus dem Auslandjahr zurück. Sie ist nun im dritten Lehrjahr bei der Hilti AG in Schaan. Vom Englisch- und Französisch-Unterricht an der Berufsschule BZB in Buchs ist sie teilweise befreit, da sie die Sprachdiplome Cambridge English Advanced (CAE) und DELF B2 erfolgreich bestanden hat. Ebenfalls ergänzen bereits vor dem Lehrabschluss zwei Arbeitszeugnisse ihren persönlichen Rucksack. In der Nähe von Exeter hat sie in einer grösseren «Entertainment Agency» im Marketing gearbeitet, um anschliessend in Bordeaux bei einem kleinen Start-up-Unternehmen Anlässe von A bis Z mitzugestalten.
Im Gegensatz zur englischen, durchorganisierten Arbeitskultur, erlebte sie die französische viel spontaner. «Ich habe viel gelernt. Man kann anders sein, eine andere Kultur und andere Standards haben – es funktioniert trotzdem gut», sagt Rebecca Pirkes. «Und noch wichtiger: Es macht auch Spass.»
Abnabeln im geschützten Rahmen der Lehre
Die schweizweit rund 20 Plätze der «kv plus»-Lehre stehen kaufmännischen Lernenden des E-Profils offen. Die Schulleitung von KV Luzern Berufsfachschule führt ein Auswahlverfahren durch. «Dabei sind nicht in erster Linie herausragende Noten wichtig, sondern die Persönlichkeit zählt und die Bereitschaft, ein Jahr zu Hause auszusteigen und sich auf Neues einzulassen», sagt Philipp Müller.
Mit ihrer Bewerbung müssen die Lernenden ihr Interesse und ihre Motivation darlegen und aufzeigen, dass sowohl der Lehrbetrieb als auch die Eltern dieses Vorhaben vollumfänglich unterstützen. Das Auslandjahr bietet gemäss der Schulleitung nicht nur eine Chance für den künftigen Berufsweg der jungen Menschen, sondern fördert auch die Selbstständigkeit und beschleunigt den Ablösungsprozess vom Elternhaus.
St.Galler Tagblatt - Hildegard Bickel